29.12.23
Warum gibt es keine Therapieplätze?
Psychische Erkrankungen nehmen in Deutschland immer mehr zu.
Eine Umfrage der Psychotherapeutenkammer zeigt, dass seit
Beginn der Corona-Pandemie die Anzahl von Anfragen für
Psychotherapie um knapp 30 Prozent gestiegen ist. Die Wartezeit
auf einen Therapieplatz beträgt jedoch häufig mehrere
Monate.
„Nur zehn Prozent der Anfragenden konnten innerhalb eines
Monats einen Behandlungsplatz erhalten. Knapp 40 Prozent
mussten länger als sechs Monate warten. […] Fast jeder zweite
psychisch kranke Mensch muss drei bis neun Monate auf den
Beginn einer Behandlung warten.“
Woran liegt das?
Die Zahl der approbierten Psychotherapeuten steigt zwar, jedoch
erhalten nur etwas mehr als die Hälfte einen Kassensitz.
„Wie viele dieser Kassensitze nötig sind, legt der Gemeinsame
Bundesausschuss fest. Ein Gremium, in dem neben Kliniken und
Patientenvertretern auch die Kassen sitzen. 2400 Kassensitze
bräuchte es bundesweit zusätzlich, so das letzte vom Ausschuss
in Auftrag gegebene Gutachten. Tatsächlich geschaffen worden
sind seitdem aber nur rund 800."
Die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen nur Behandlungen nach
den derzeit anerkannten "Richtlinienverfahren". Nur diese
gelten als „wissenschaftlich anerkannt“ und „wirtschaftlich“.
Dazu gehören im Moment:
- Verhaltenstherapie
- tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
- analytische Psychotherapie („Psychoanalyse“)
- Systemische Therapie
- EMDR innerhalb eines Richtlinienverfahrens bei Erwachsenen
zur Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen
Alle anderen Therapien werden bislang größtenteils nicht von
den gesetzlichen Krankenkassen erstattet.
Quellen:
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/therapie-pandemie-101.html
https://www.therapie.de/psyche/info/fragen/wichtigste-fragen/was-bezahlt-die-krankenkasse/
20.11.2023
Was wir von Depressionen lernen können:
Depressionen gehören neben den Angststörungen zu den häufigsten
psychischen Erkrankungen in Deutschland. Obwohl fast jeder in
seinem Leben mindestens eine depressive Episode durchläuft, ist
immernoch nicht vollständig geklärt, wie die Krankheit
entsteht. Ursachen können im organischen, psycho-sozialen und
entwicklungspsychologischen Bereich liegen.
Jemand hatte die Depression einmal als „Schnupfen der Psyche“
bezeichnet. Nach dem Motto: Jeder hat sie mal, dann
verschwindet sie wieder.
Für einige Menschen kann die Depression jedoch auch jahrelanges
– manchmal lebenslanges – Leid bedeuten. Beispielsweise in Form
von rezidivierenden (wiederkehrenden) depressiven Episoden oder
als Dysthymia, der chronischen Depression. Das bedeutet für
Betroffene immer wiederkehrende Phasen von Antriebslosigkeit,
Freud- und Gefühllosigkeit, Selbstzweifeln, Morgentief,
Schlafstörungen, Selbstmordgedanken und
Hoffnungslosigkeit.
„Wer bin ich, wenn ich nichts leiste?“
Wenn wir selbst betroffen sind, wissen wir, dass Depressionen
manchmal nicht wie ein Schnupfen wieder verschwinden. Wir
wissen, dass mit Rückschlägen Scham und Selbsthass kommen
können. Wir erinnern uns an unser gesundes Ich, vergleichen uns
mit unserer früheren kindlichen Unbekümmertheit und trauern um
sie. Werten uns ab, weil wir nichts mehr schaffen.
Ich erinnere mich an ein Fallbeispiel einer Frau, die an
paranoider Schizophrenie litt und ab einem bestimmten Punkt
aufgehört hat, gegen die Stimmen in ihrem Kopf anzukämpfen. Von
einem „Haut endlich ab!!!“ wurde ein etwas versöhnlicheres „Na
schön, was wollt ihr?“.
Paradoxerweise wurden die Stimmen weniger. Sie hat diese im
Nachhinein mit kleinen Kindern verglichen, die schlichtweg ihre
Aufmerksamkeit wollten und dass sie sich mit Ihnen beschäftigt.
Sie hat sich hingekniet, ihrem „Kind“ in die Augen geschaut und
gefragt: „Was möchtest du mir sagen?“
Es gibt mehrere Begriffe für dieses Phänomen: Schattenarbeit,
radikale Akzeptanz, Liebe, ... such dir was aus..
Dabei kommen wir zu einer der unbeliebtesten Fragen, die wir
uns stellen können:
„Wer bin ich, wenn ich nichts leiste?“
Bin ich dann müde?
Habe ich Angst? Vor der Peitsche in meinem Nacken?
Bin ich deswegen wütend auf mich?
Oder auf andere?
Es ist bestimmt nicht leicht, sich diesen Fragen zu stellen,
aber denk mal an das Beispiel der Frau: Was könnte die
Depression von uns wollen? Können wir uns hinknien und ihr in
die Augen schauen?
Könnte sie möglicherweise sagen: „Hey, hör mal, ich würde mir
so sehr wünschen, dass du es dir erlaubst, müde zu sein. Dein
Kopf ist doch die ganze Zeit am Rotieren und Grübeln, da wird
man halt müde. Wenn du das nur genauso sehen könntest wie ich,
dann müsste ich mich nicht seit Jahren an deinen Rücken
klammern und dich 50kg schwerer machen als du bist!“
Vielleicht sagt sie dir aber auch was ganz anderes, hör ruhig
mal in dich rein. :)
Wodurch und wovor schützt sie uns nun
aber?
Betrachte die folgenden Fragen gern als Anreiz, vielleicht
kommst du auf ganz andere Ideen.
Schützt dich dein Tiefsinn vor zu wenig Sinnhaftigkeit in
deiner Umgebung?
Schützt dich dein Rückzug vor Reizüberflutung?
Schützen dich deine Selbstzweifel vor zu schnellem Wachstum,
egal ob im Innen oder Außen?
...
Kann die Depression auch ein Anstoß zu mehr Eigensinn,
Unabhängigkeit, Bedächtigkeit und Bewusstheit sein?